In jedem von uns steckt ein Globetrotter. Ein Forscher. Ein Neugieriger. Ein Mutiger. Das zeigt die Tanzcompagnie in zwei Choreografien zum Auftakt ihrer Spielzeit im Stadttheater.
Das Reisefieber hat die Tanzcompagnie ergriffen. Doch es werden weder Koffer gepackt noch Bademoden ausgesucht, weder Flugtickets gelöst noch Autos betankt. Nicht mal ein Schmetterlingsnetz kommt zum Einsatz. Beim ersten Tanzabend der neuen Spielzeit mit dem Titel »Globetrotter« zeigen die beiden Choreografen Rosana Hribar und Jacek Przybylowicz im Großen Haus des Stadttheaters zu orchestraler Musik aus dem 20. Jahrhundert in einem jeweils eigenen Stück ihre Vision des Weltentdeckens.
Hribar gelingt mit ihrer Arbeit »Swift steps, ready courage« der Spagat, Kunst und Coolness miteinander zu verbinden. Ihr Abenteuer führt zur »Le Globetrotter Suite« und dem ergiebigen »Le boeuf sur le toit« (»Der Ochse auf dem Dach«, in einer Aufnahme aus dem Jahr 1976 mit Leonard Bernstein am Pult) von Darius Milhaud um die halbe Welt. Das Ungewöhnliche an dem Projekt: Tanzdirektor Tarek Assam hat den Künstlern die Musik vorgegeben. »Das war eine Herausforderung«, sagt die Slowenin in ihrem von den vielen selbst gedrehten Zigaretten dunkel gefärbten Timbre. Choreografen suchen sich üblicherweise ihre Musik selbst aus.
Hribar zögerte kurz, als sie den weiten tonalen Raum abschritt, in dem sich Milhaud bewegt, und setzte das Ganze dann mit Mut um – der Titelbegriff »courage« darf durchaus auf sie gemünzt werden. Ihre detailverliebte Handschrift war bereits 2015 in »Glaub an mich« im taT zu bewundern. Im Großen Haus achtet Hribar nun auf verspielte Kostüme und die Bühnentiefe, die von einem großformatigen Stier in Besitz genommen wird (Ausstattung: Imme Kachel), auf dem sich tanzen und fassadenklettern lässt. Sven Krautwurst (in athletischer Grand- seigneur-Form) gibt den Globetrotter im schwarzen Anzug als eine Mischung aus James Bond und Fred Astaire. Seine Ginger Rogers ist ein knapp bekleidetes Spitze tanzendes Punk-Girl mit Irokesenschnitt (große Klasse: Julie de Meulemeester).
Von der Stadt aus gelangt der Globetrotter zunächst in dunkle Gefilde, in denen bizepsstarke Männer am Tisch alles unter sich ausmachen. Plötzlich steht der Held in Mexiko und wird von einem Stier bedroht (prächtig: Gleidson Vigne). Allerlei Pflanzen gedeihen dort, denen Hribar das Leichte, Verschmitzte und Humorvolle wie beiläufig einhaucht. Etwa in Form eines lebendigen Kaktus. Oder als Burka-Mädchen im sexy Minirock (nach der Idee von Choreograf Massimo Gerardi). Ein ausgefeilter Pas de deux reiht sich an den nächsten. Die Männer sind im Quartett stark, die Frauen auch. Caitlin-Rae Crook demonstriert eindringlich, wie dynamisch kurze Hebel funktionieren. Am Ende schneit es und alle wirbeln umher. Intensiver Applaus mit Standing Ovations für das Regie-Team und die neun Tänzer, die nach dem 40-minütigen Parforceritt sichtlich glücklich und außer Puste sind.
Zum Beginn des Abends richtet die Choreografie von Jacek Przybylowicz den Blick auf ausgefeilte Bewegungsmuster. In seinem Stück mit dem Titel »Globe« fordert er die komplette 13-köpfige Tanzcompagnie heraus. Der Bühnenraum bleibt schwarz und abstrakt. Der Pole wirkte schon vor zwei Jahren am düsteren Edgar-Allan-Poe-Abend »All we see« mit. Diesmal widmet er sich dem ursprünglich als Ballettmusik gedachten Orchesterwerk »Panambi« des Argentiniers Alberto Ginastera. Die Tänzer tragen kurzes Safari-Outfit. Sie bewegen sich kühl und kühn durch ein Niemandsland, das dank seiner intensiven Entdeckerinszenierung den Zuschauer zu packen weiß, wenn Przybylowicz das Ensemble in Klavierhämmer-Manier zu Wellenmustern verleitet oder ein schwarzer Rabe (Edgar-Allan-Poe lässt grüßen) die Neugierigen in Bann zieht, als frage er: Ist nicht jeder von uns ein Globetrotter?
Wäre Magdalena Stoyanova nicht die Grande Dame der Kompagnie, sie hätte an diesem Abend ihren großen Durchbruch gefeiert mit Anmut, Ausstrahlung und einer innigen Körpersprache, die bis in ihren kleinen Zeh reicht. Dazu präsentiert Ewa Krasucka in zwei Videos die zuvor gefilmten Tänzer großformatig in der Stop-Motion-Technik à la Ray Harryhausen. Ihre Reise führt durchs Theater, zumindest durchs Foyer und das Treppenhaus. In der Auftaktsequenz glänzen darin Maria Adriana Dornio und Julie de Meulemeester in einem Pas de deux um die Wette. Wie der Premierensamstag dokumentiert, haben sich die neuen Tänzer bereits gut ins Ensemble integriert. Für alle Beteiligten ein rundum gelungener Saisonauftakt.
Manfred Merz, 01.10.2018, Gießener Allgemeine Zeitung