Wann ist ein Diamant ein Diamant - erst wenn er geschliffen ist, oder ist er auch in roher Form kostbar? Hat ein rohes Ei nicht etwas unglaublich Zartes? Ist ein geschliffener Bergkristall ein Diamant? Diamantsplitter auf der Spitze eines Bohrkopfes - sind die nicht schrecklich rau? Steckt in jeder rauen Schale ein zarter Kern? Ist ein Rohling wirklich roh? Ist die Kombination von zart und bitter nur bei Schokolade möglich? Warum können auf zarte Anfragen raue Antworten folgen? Was macht man bloß mit einem ungehobelten Klotz? Und vor allem: Kann ein Raubein zart besaitet sein?
Was hat das nun alles mit Theater zu tun? Nichts. Und doch unendlich viel. Theater ist voll von Rohlingen, voll von Rohmaterial, zarten Pflänzchen, von klar geschliffenen Kleinodien und ungefeilten Ideen, voll von ungehobelter, unbändiger Energie. Theater lebt auch im wahren Wortsinn von Roh-Materialien: Holz, Metall, Farben, Gips, Leim, Stoffe werden nahezu täglich angeliefert, um in den Werkstätten - der Tischlerei, der Schlosserei, dem Malersaal, der Requisite, der Deko-Abteilung, den Schneidereien und der Maske - bearbeitet und verarbeitet zu werden; zu ebenso monumentalen wie fragilen Kostümen, Masken und Bühnenbildern, die Räume schaffen und Wirklichkeit behaupten.
Aber auch jede Partitur, jedes Libretto im Musiktheater, jede Idee von Bewegung und Körpersprache im Tanz, jede dramatische Vorlage und jedes Manuskript im Schauspiel und jede schier ungebremste Notwendigkeit aller Kunstsparten, sich mit den Themen des Lebens auseinander zu setzen, sind Rohlinge der künstlerischen Theaterarbeit. Mit ihnen arbeiten wir; sie werden gefeilt, geschliffen, geknetet, geformt, bis in einem gemeinsamen energiegeladenen Kraftakt der Theaterabend entsteht.
Was dabei herauskommt ist jedoch manchmal alles andere als zart - nicht jeder Stoff, den wir auf unseren Bühnen mit Ihnen verhandeln wollen, gestaltet sich glatt und wohlgeformt - soll er auch nicht. So ist das Leben nicht, und so sind auch nicht die Fragestellungen, die es aufwirft: Unsere Stoffe haben Ecken und Kanten, manchmal bleiben wir an ihnen hängen, stoßen uns. Und genau wie die Wirklichkeit begegnen uns manche Fragen rau - andere sind sehr leise, entfalten ihre Kraft ganz zart, aber nicht weniger nachhaltig.
Begegnungen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, erwarten Sie also - Begegnungen mit Mördern und LiebhaberInnen, mit gemütlichen Opas und bösartigen Hexen, mit Seherinnen und Narren, mit Prinzen und vermeintlichen Staatsbeamten, mit Feldherren und Maitressen, mit Puppen und Selbstmördern, mit Motten und Holzwürmern, mit Baumeistern und Tambourmajoren Ich wünsche mir viele geschliffene Theaterabende mit Ihnen,
auch ungehobelte Erlebnisse mit Ecken und Kanten und Momente voller Zartheit.
Ihre Cathérine Miville | Intendantin